Shakespeare Sonett I

Shakespeare veröffentlichte neben seinen berühmten Theaterstücken auch 154 Sonette. Vermutlich entstanden sie zu Zeiten der Pest, als alle Theater geschlossen waren. Das berühmte 18. Sonett von Shakespeare findest Du hier.

Sonett I – Übersetzung Karl Kraus

Ein schönes Wesen wünscht man fortgesetzt,
daß nie der Schönheit Rose ganz vergehe,
und welkt sie durch die Zeit, daß unverletzt
im schönen Sproß das Schöne auferstehe.

Du aber, nur dem eignen Strahl verbunden,
du, nur genährt, verzehrt von deinem Glanze,
du hast, dich neidend, deinen Feind gefunden,
der dir im Vollbesitz mißgönnt das Ganze.

Du, der die Welt beglückt mit jedem Reiz,
des Frühlings Herold, der mit vollen Händen
versagt im Spenden, du gewährst dem Geiz,
dich endlich in dir selber zu verschwenden.

Gewähre dich der Welt, der zugehört
die Schönheit, die das Grab der Zeit verzehrt.

_{© Shakespeare, Übersetzung Karl Kraus}

Sonett I – Übersetzung Max Josef Wolff

Wir wünschen Blüte der Vollkommenheit,
Auf daß der Schönheit Rose nie verdorrt,
Doch ist dem Tod die reife Frucht geweiht,
So pflanz‘ ein Erbe ihr Gedächtnis fort.

Du lebst nur dir, der Schönheit Selbstgenuss,
Schürst eignen Glanz, der dich verzehrend scheint,
Schaffst Hungersnot aus reichem Überfluss,
Heut bist du noch der frische Schmuck der Welt,

Grausam dir selbst gesinnt, dein eigner Feind.
Der einz’ge Herold für des Frühlings Reiz,
Doch wenn dein Schatz in einer Blüte fällt,

Wird zur Verschwendung, süßer Filz, dein Geiz.
Hab‘ Mitleid, birg nicht überreiche Gabe,
Der Welt Anrecht, in dir und in dem Grabe.

_{© Shakespeare, Übersetzung Max Josef Wolff}

Quellen

• Texte: William Shakespeare, Übersetzungen: Karl Kraus / Max Josef Wolff / Über die Sonette von Shakespeare
• Bild: William Shakespeare – Shake-Speare’s Sonnets, quarto published by Thomas Thorpe, London, 1609, http://www.folger.edu/imgdtl.cfm?imageid=642&cid=926, Gemeinfrei,