Rainer Maria Rilke hat wunderschöne Sonette geschrieben. Da klappert nichts.
Lies selbst – allein die erste Strophe des Sonett Orpheus – hörst du das Singen in diesem Klingen der Verse? Ich brauchte die erste Sonett Strophe des Orpheus gar nicht auswendig zu lernen, um es im Ohr zu haben.
Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung!
O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr!
Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung
ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor.
Für geschulte Ohren ist ein Sonett von Rilke ein Ohrenschmaus, in dem man gar nicht aufhören will zu schwelgen. Das hier zu lesende Sonett von Rilke stammt aus dem Jahr 1922. Es gehört zu einem Sonett – Zyklus, den Rilke mit „Sonette an Orpheus“ betitelt hat.
Die „Sonette an Orpheus“ gelten unter Literaturwissenschaftlern als der Höhepunkt des dichterischen Schaffens des begnadeten Dichters Rilke. Vier Jahre später stirbt Rilke, der zeitlebens schwer krank war. Warum Orpheus? Orpheus, mythischer König der Thraker und begnadeter Sänger gilt vielen als der Ur-Dichter schlechthin.
Orpheus stand Apollon, dem Gott der Künste, nahe. Für manche gilt er sogar als dessen Sohn. Mit seiner Lyra vermochte Orpheus Tiere, Pflanzen, Menschen, Götter und die Naturgewalten für sich einzunehmen. Schließlich gelang es Orpheus mit seiner Musik sogar, das schwer zu rührende Herz des Gottes der Unterwelt – Hades – zu wenden. Hades erfüllt Orpheus seine Bitte – seine tödlich verunglückte Frau, Euridike (ein Schlangenbiss), aus dem Hades mit zurück in die Welt des Lichtes zu nehmen. Doch vergeblich blieb die Erlaubnis, denn diese war an eine Prüfung für Orpheus gebunden, die leicht geklungen haben mag und doch für Orpheus unmöglich war.
Rilke – 1875 – 1926
Sonette an Orpheus, I, 1
Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung!
O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr!
Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung
ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor.
Tiere aus Stille drangen aus dem klaren
gelösten Wald von Lager und Genist;
und da ergab sich, daß sie nicht aus List
und nicht aus Angst in sich so leise waren,
sondern aus Hören. Brüllen, Schrei, Geröhr
schien klein in ihren Herzen. Und wo eben
kaum eine Hütte war, dies zu empfangen,
ein Unterschlupf aus dunkelstem Verlangen
mit einem Zugang, dessen Pfosten beben, –
da schufst du ihnen Tempel im Gehör.
Rainer Maria Rilke
Quellen
- Text: © Rainer Maria Rilke
- Bilder: ©Von Friedhelm Wessel – Eigene Arbeit. Für Wikipedia erstellt am 23.01.2005, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=326639https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=326639https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=326639